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Über Märchen...

Es gibt viele Welten, an die ich mich nicht erinnere. Ich habe sie träumend durchschritten und wusste am Morgen nichts mehr davon. Es gibt Welten, an die ich mich erinnere wie an einen farbigen Teppich, aber das Muster entgleitet meinem Bewusstsein, sobald ich es berühren will. Vielleicht höre ich noch einen entfernten Ton, und der Klang hallt noch lange in mir nach. Manchmal finde ich Bruchstücke davon, meistens dort, wo ich sie nicht erwartet habe, und füge Teil an Teil und erhasche irgendwann ein Stück eines Bildes, das mir bekannt vorkommt. Menschen, Tiere und Landschaften, die ich kenne, und eigentlich doch nicht kennen kann. Und wenn sich der Nebelvorhang dieser Welt wieder darüber zieht, komme ich mir einsam und verlassen vor und habe das Gefühl, dass ich dasjenige verloren habe, was mir am wichtigsten ist. Aber dann schlage ich ein Buch auf - ein Märchenbuch, und es spielt keine Rolle, in welchem Land das Märchen spielt - und die verloren geglaubten Welten sind wieder bei mir.

Wenn Königstöchter ihre Herkunft "vergessen" und Bettler am Wegrand alles andere sind, aber keine Bettler, wenn Tiere sprechen können und der weg der wunderschönen, aber armen Tochter in ein Reich führt, wo eine Aufgabe auf sie wartet, wenn Bäume in den Himmel wachsen, auf denen sich ganze Welten befinden, silberne und goldene, die nur gerade für diesen einen Menschen in dieser bestimmten Zeit offen stehen, dann befinden wir uns in der Welt der Märchen. 

Rudolf Meyer schreibt dazu in "Die Weisheit der deutschen Volksmärchen":

Es gibt, ausser in der Welt, in der alles streng nach Naturgesetzen verläuft, noch ein anderes Reich, in dem die Seele ihre wahre Heimat hat. Es hat immer solche begnadete Menschen gegeben, denen sich die Tore zu diesem Reich des Wunderbaren aufgetan haben. In früheren Zeiten sind solche Menschen noch viel häufiger zu finden gewesen, oftmals in schlichter Hülle und an einsamer Stätte lebend, wie es die Märchen schildern. Aber es fehlt auch heute nicht an erleuchteten Persönlichkeiten, denn die Welt kann nie ohne solche weisen Männer und Frauen auskommen. Ebenso gibt es noch immer Könige und Königinnen - selbst noch in einer Zeit, in der die irdischen Throne ins Wanken geraten...

...Es ist für die Kinderseele wohltätig, weil Ehrfurchtkräfte weckend, wenn sie eine Ahnung davon erhält, dass die besten Könige die sind, welche unsichtbare Kronen tragen, und dass es eine Gnade ist, wenn solche Menschen auch heute über unsere Erde hinschreiten.

Vielleicht dürfen wir selber ihnen irgendwo begegnen?

Und wohl uns, wenn wir sie trotz ihrer unscheinbaren Erdenhülle zur rechten Stunde erkennen! 

Die Sterntaler

Es war einmal ein kleines Mädchen, dem war Vater und Mutter gestorben, und es war so arm, dass es kein Kämmerchen mehr hatte, darin zu wohnen, und kein Bettchen mehr, darin zu schlafen, und endlich gar nichts mehr als die Kleider auf dem Leib und ein Stückchen Brot in der Hand, das ihm ein mitleidiges Herz geschenkt hatte. Es war aber gut und fromm. Und weil es so von aller Welt verlassen war, ging es im Vertrauen auf den lieben Gott hinaus ins Feld. Da begegnete ihm ein armer Mann, der sprach "ach, gib mir etwas zu essen, ich bin so hungrig". Es reichte ihm das ganze Stückchen Brot und sagte "Gott segne dirs", und ging weiter. Da kam ein Kind, das jammerte und sprach "es friert mich so an meinem Kopfe, schenk mir etwas, womit ich ihn bedecken kann". Da tat es seine Mütze ab und gab sie ihm. Und als es noch eine Weile gegangen war, kam wieder ein Kind und hatte kein Leibchen und fror, da gab es ihm seins; und noch weiter, da bat eins um ein Röcklein, das gab es auch von sich hin. Endlich gelangte es in einen Wald, und es war schon dunkel geworden, da kam noch eins und bat um ein Hemdlein, und das Mädchen dachte "es ist dunkle Nacht, da sieht dich niemand, du kannst wohl dein Hemd weggeben" und zog das Hemd ab und gab es auch noch hin. Und wie es so stand und gar nichts mehr hatte, fielen auf einmal die Sterne vom Himmel, und waren lauter harte blanke Taler; und ob es gleich sein Hemdlein weggegeben, so hatte es ein neues an, und das war vom allerfeinsten Linnen. Da sammelte es sich die Taler hinein und war reich für sein Lebtag.

Gebrüder Grimm

Die Liebe ist immer da - nur die Form verändert sich.

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